ZEHN
10.1 Einleitung
1Das Mentalbewußtsein hat vier Hauptarten, entsprechend den Molekülarten 47:4-7. Die Mehrzahl der Menschen ist in der Aktivierung des Prinzipdenkens, 47:6, begriffen. Kaum begonnen ist die Aktivierung des Perspektivdenkens, 47:5. Auch die Minderheit auf der Kulturstufe begnügt sich oft mit einer sehr mangelhaften Entwicklung dieses nützlichen Denkens. Dieser Abschnitt will dem mit praktischen Anweisungen in gewissem Maß abhelfen.
2Wie wir sehen werden, ist es zweckmäßig, das Mentalbewußtsein in
das niedere Mentale, 47:6,7, und
das höhere Mentale, 47:4,5 einzuteilen.
3Das niedere Mentale ist die Mentalität der Emotionalstufe, jener Intellekt, der es schwer hat, sich gegenüber dem Emotionalen durchzusetzen und deshalb zumeist dessen Diener wird anstatt sein Herr; Intelligenz in der Arbeit daran, emotionale Begehren zufriedenzustellen und emotionale Bewertungen zu rationalisieren.
4Kollektive Beispiele sind: Ideologien, Glaubenssätze, Konventionen; individuelle: unsere persönlichen Welt- und Lebensanschauungen.
5Das höhere Mentale ist die Mentalität der Mentalstufe (der Humanitätsstufe), jener Intellekt, welcher sich aus der Abhängigkeit von Gefühl und Phantasie freimachen kann; deshalb ist es das wirksamere Mentale. Im physischen Leben können wir uns mit dem niedrigeren Mentalen durchbringen. Ist unser Ziel, uns allein physische und emotionale Befriedigung zu verschaffen, so brauchen wir keine höhere intellektuelle Kapazität als 47:6. Erst dann, wenn wir uns für das Leben als Problem, für Fragen der Welt- und Lebensanschauung, zu interessieren beginnen, benötigen wir ein wirksameres Denken.
6Diese höhere Art des Denkens hat ihre Bedeutung nicht allein darin, theoretische Wissensprobleme zu lösen. Tatsächlich besteht sein größter Wert darin, daß es unser Werkzeug zur Lösung praktischer Probleme, zur Analyse von und Befreiung aus individuellen und kollektiven Begrenzungen und Leiden ist.
7In diesem Abschnitt wird zunächst das Perspektivdenken beschrieben, teils durch seine Verfahren und kennzeichnende Einsichten, teils durch Gegenüberstellung mit dem emotional Mentalen.
10.2 Der Emotionalismus
1Das normale Denken des Menschen ist nur ausnahmsweise durch die Wirklichkeit bestimmt. Auch wenn es in seinem eigenem Interesse liegt, in erster Linie das Sachliche zu sehen, fällt ihm gerade dies am schwersten. Zumeist ist er ein Opfer des Gefühlsdenkens, und je mehr die Gedanken persönliche und menschliche Dinge berühren, desto mehr macht sich das Emotionale geltend.
2Damit ist nicht gesagt, Gefühle seien etwas Schlechtes. Im Gegenteil, wir benötigen Gefühle anziehender Kraft, welche uns zu Handlung treiben und unser Verlangen nach Idealen entzünden können. Aber wir sollen unsere Gefühle auch gegen die Welt der physischen Handlung, nicht gegen die Welt des Gedankens, richten. Sobald das Gefühl in der Welt des Gedankens etwas zu sagen hat, wird das Ergebnis immer auf irgendeine Weise irreführend.
3Das Gefühl in der Welt des Gedankens, das Gefühl aus Steuer- und Auswahlsinstrument für den Gedanken, das Gefühl als Ersatz für den klaren Gedanken, wird Emotionalismus genannt. Folgende Neigungen kennzeichnen den Emotionalismus.
4Am kennzeichnendsten ist die Neigung, alles zu einer Frage von Anziehung oder Abstoßung des Gefühls zu machen. Diese Neigung will alles, wirkliche Dinge, Menschen, Geschehnisse, Aussprüche, Ideen in eines dieser zwei Fächer einordnen: „ich mag es“ oder „ich mag es nicht“. Zumeist geschieht dies unbewußt. Hat etwas einmal seinen emotional positiven oder negativen Charakter bekommen, färbt dieser auf alle folgenden Eindrücke ab, sodaß unsere Ansichtenvom betreffenden Ding oder vom betreffenden Menschen alle die gleiche Neigung bekommen: negativ oder positiv. Das ist der Grund dafür, daß der Schurke stets unrecht haben muß und Fehler macht und der Held immer recht hat und recht tut. Deshalb ist es, daß verschiedene Menschen, mit negativer oder positiver vorgefaßter Ansicht, dazu neigen, die gleiche Handlung oder gleiche Charakterzüge verschieden zu bewerten, sodaß der gleiche Mensch vom einen als „gespreitzt“ und vom anderen „seelenvoll“, vom einen als „unbeherrscht“ und vom anderen als „spontan“ aufgefaßt wird. Diese Neigung bringt uns dazu, was wir als anziehend oder abstoßend auffassen zu übertreiben oder herunterzuspielen, abhängig davon, ob wir selbst positiv oder negativ eingestellt sind.
5Die Neigung, mit Anziehung oder Abstoßung zu reagieren, erstickt leicht die Ansätze zu mentaler Auffassung, die es geben kann. „Das Gefühl macht blind.“ Unpersönliche, sachliche Kritik wird persönlich und negativ aufgefaßt und der Sachinhalt geht verloren.
6Ein großes Problem stellt die Emotionalisierung von Begriffen dar. Um uns mit anderen verständigen zu können, müssen wir Worte anwenden. Im Großen und Ganzen sind die Worte für alle gemeinsam. Die Begriffe dagegen, jene Ideen oder Vorstellungen, für welche die Worte als Ausdruck dienen, sind weit davon entfernt, gemeinsames Eigentum zu sein. Daß ein Begriff emotionalisiert wird, bedeutet, daß der Mensch dessen Gedankeninhalt nicht hat auffassen können, sondern diesen mit einem vorherrschend positiven oder negativen Gefühl, welches weiterhin mit dem Wort verbunden ist, ersetzt hat. Viele Worte, beispielsweise im Sprachgebrauch der Politik, wecken bei vielen Menschen überwiegend emotionale Assoziationen – positive oder negative – und wenn sie dann selbst die Worte anwenden, drücken sie in erster Linie ihre mit diesen verbundenen persönlichen Gefühle aus. Als Beispiel mögen die Worte „Demokratie“ und „Faschismus“ dienen.
7Kennzeichend ist deshalb auch der Subjektivismus, zumeist unbewußt, manchmal bewußt, eingestanden und dennoch gehegt. Auch wenn unwidersprechliche Tatsachen in eine andere Richtung zeigen, kann das Gefühlsdenken sagen: „Ja, aber so fasse ich es nicht auf.“ Das Begehren nach einem wärmenden Glauben, der Trieb, im Massenfühlen des Kollektives aufzugehen, die Forderung, einer Lehre oder einem Führer hingegeben und vollkommen loyal zu sein, sind sämtliche unvereinbar mit dem Streben nach Objektivität und ausgeglichener Auffassung.
8Für den Menschen ist es eine Entwicklungsarbeit zu lernen, seine Gefühle einzuordnen, sodaß er mit Menschen Gemeinschaft fühlen kann ohne deren Auffassungen teilen zu müssen, ja sogar Mängel und Fehler in den Ansichten erkennen zu können und dennoch die positive Einstellung den Menschen gegenüber beizubehalten.
9Solange sich der Mensch auf der Emotionalstufe befindet, bringt er Sache und Person durcheinander. Auf der Zivilisationsstufe wird das zumeist negativ: er reagiert negativ auf einen Menschen und dann werden die Ansichten, die Kenntnisse, die Beweggründe usw. dieser Person ebensowenig wert. Auf der Kulturstufe strebt der Mensch danach, positiv auf die Menschen zu sehen. Ehe er auf der Humanitätsstufe ausgeglichene Auffassung erreicht, fällt es ihm deshalb schwer, in ihrem Denken sachliche Fehler zu sehen, denn dies nennt er „negativ zu sein“. „Wunderbare Menschen“ (Heiligentypen usw.) erhebt er gerne zu unfehlbaren Autoritäten in Sachfragen.
10Die Emotionalität hat eine eingewurzelte Neigung, mit absolut extremen Werten ohne Zwischenstufen zu arbeiten. Wenn etwas gut ist, will man vor dem Negativen, welches es geben muß, der trotz allem anhaftenden Begrenzung, die Augen verschließen. Wenn etwas schlecht ist, hat man es schwer, das Positive, welches dennoch immer drinnen ist, dessen Funktion in einem größeren Zusammenhang, zu sehen. Diese Absolutmachung geschieht halb und halb im Bewußtsein dessen, daß, falls nur irgend etwas von dem der entgegengesetzten Tendenz Zugehörigen zugegeben wird, die Gefahr besteht, daß die ganze Auffassung in ihr Gegenteil umschlägt. Der Glaube muß absolut sein, denn wenn der geringste Zweifel gestattet wird, fühlt sich alles „bodenlos“ an und man ist nahe daran, alles zusammen über Bord zu werfen. Findet man in der Unterweisung des Lehrers einen kleinen Fehler, wird er verworfen. Wenn der „Fehler“ ein (wirklicher oder eingebildeter) Fehler bei der Person des Lehrers („Charakterfehler“) ist und damit seine Lehre verworfen wird, liefert das Denken den Beweis für sowohl Absolutmachung wie auch Verwechslung von Sache und Person.
11Augenfällig ist beim Emotionalismus die Wertschätzung der Form auf Kosten von Funktion, Inhalt und Sinn. Die Form in der und die Art und Weise auf welche etwas dargelegt wird, ist für den Emotionalen oft wichtiger als die Botschaft selbst. Ein geschickter Schriftsteller kann mit Worten, welche auch für ihn selbst vernünftiger Bedeutung entbehren, malen, nachdem es sich mehr um Überführung von (Beeinflussung durch) Gefühlen als sachlicher Information handelt. Nicht einmal Schriftsteller in Esoterik haben die Gefahr eingesehen, überlieferte Ausdrücke wie „Verstand“, „Seele“, „Geist“, „Gott“ anzuwenden, welche von den meisten Lesern unfehlbar im gewohnten sentimental religiösen Sinn aufgefaßt werden, anstatt sie als Bezeichnungen für bestimmte Bewußtseinszustände, von denen es genaue Kenntnisse gibt, aufzufassen. Wenn dann die Hylozoik, um dies hervorzuheben, unzweideutige Bezeichnungen wie 47-, 46-, 45-, und 43-Bewußtsein (entsprechend „Verstand“ usw.) einführt, beklagt man sich darüber, daß diese „unbegreiflich“ seien. Als ob man vorher „Gott“ begriffen hätte!
12Man kann feststellen, daß es die Neigungen des Emotionalismus' bei allen Menschen gibt, wenngleich in verschiedenen Ausmaß, daß er einen Bestandteil unseres Denkens ausmacht, solange wir Menschen sind. Wir brauchen also Individuen nicht zu Emotionalisten ernennen, auch wenn dies im Ganzen gesehen für die auf der Emotionalstufe der Fall ist. Dagegen sollen wir uns selbst besser beobachten, unseren Emotionalismus studieren und lernen, von ihm weniger abhängig zu werden. Schon mit mehr Selbstbeobachtung haben wir viel gewonnen. Können wir alsdann unsere Beobachtungen ruhig und in geordneter Weise zu allgemeingültigen Erfahrungen, ungefähr wie im oben Angeführten, bearbeiten, so haben wir ebensoviele bedeutsame Schritte zur Befreiung von jenen Illusionen, welche uns auf erreichtem Niveau zurückhalten wollen, getan.
10.3 Identifizierung und Projizierung
1Die objektive Wirklichkeit außerhalb unserer Haut ist, im Gegensatz zu den Behauptungen gewisser Philosophen, keine Illusion. Der Illusionen gibt es dagegen genug in unserer inneren Wirklichkeit. Sie sind unsere Wahnvorstellungen und Mißdeutungen tatsächlicher Verhältnisse.
2In unserer Eigenschaft als Wesen in Evolution sind wir unvollkommen und unwissend. Sind wir uns unserer außergewöhnlichen Unkenntnis und der großen Mängel in unserer Beurteilung einigermaßen bewußt, so brocken wir uns selbst und anderen bedeutend weniger Probleme ein. Wir sind dann weniger vorschnell, Schlußfolgerungen aus solchem zu ziehen, worüber wir nichts wissen können.
3Ein Paar mittleren Alters kommt aus dem Lebensmittelladen. Sie schleppt zwei schwere Einkaufsnetze. Er trägt ein kleines Säcklein. Jemand in der umgebender Menge sagt etwas von „Faulpelz“, gerade laut genug, sodaß er es hören soll. Es war die Illusion, welche Stimme bekam und sprach. Die Wirklichkeit: der Mann ist schwer herzkrank und vom Arzt ist ihm verboten worden, schwere Sachen zu tragen.
4Identifizierung kann man solche innere Zustände nennen, in welchen wir wirkliche Ereignisse und Dinge, lebende Menschen so behandeln, als ob sie mit unseren Vorstellungen vom „Kennzeichnenden“ in ihnen identisch seien. So können wir eine neue Situation mit einem traurigen Ereignis in der Vergangenheit identifizieren, eine neue Möglichkeit mit einem alten Hindernis, einen neuen lebenden Menschen mit dem „Typus“, welche unsere Vorurteile (Geschlechts-, Rassen-, Klassenvorurteile usw.) in ihm sehen. Wir identifizieren das Ganze mit dem Teil, den Behinderten mit dem Gebrechen, den Fehlenden mit dem Fehler. Wir identifizieren die Gruppe mit einem einzelnen Individuum aus ihr, welches wir getroffen haben und welches vielleicht keineswegs repräsentativ war (das „so sind sie alle“-Denken). Wir identizieren das Bestehende mit dem Gelegentlichen und beurteilen (verurteilen) einen Menschen nach dem „ersten Eindruck“.
5Wir identifizieren deshalb, weil wir uns unserer Teilauffassung nicht bewußt sind. Jegliche Auffassung ist Teilauffassung. Den Teil und das Gelegentliche kennen wir oder glauben es zu kennen. Das Ganze lernen wir durch den Teil nicht kennen. Wird uns bewußt, daß unsere Auffassung Teilauffassung ist, können wir allmählig aufhören zu identifizieren. Dann können wir statt dessen Demut studieren.
6Während der Schul- und Jugendjahre werden uns auf allen Lebensgebieten unzählige Wahnvorstellungen eingepflanzt. Haben wir von früheren Leben richtigere Begriffe latent, so können sich diese mit jedem neuen Lebensalter (14, 21, 28 Jahre) immer stärker geltend machen, um mit 35 Jahren ihre verlorene Vorherrschaft wieder zu erlangen. Dies setzt jedoch voraus, daß wir nachdenkend leben, uns selbst und andere beobachten, gemachte Erfahrungen täglich bearbeiten. Wie die meisten mit geringstmöglichem Nachdenken durch das Leben wandern, werden die Illusionen und Fiktionen für diese Inkarnation, welche nicht selten vertan wird, unausrottbar.
7Wenn wir unsere Wahnvorstellungen von einer gewissen Sache Wurzeln schlagen lassen, werden wir für andere Bescheide, neue Eindrücke, unempfänglich. Wir können dann das Neue nicht länger als das, was es ist, entgegennehmen, sondern projizieren das Alte obendrauf. Dann lernen wir nichts neues, sondern sehen allein das, was wir bereits wissen oder zu wissen glauben. Jene neuen Eindrücke und Erfahrungen, welche uns mit neuen frischen Kräften und Einsichten hätten beleben können, werden machtlos, wenn wir sie ständig durch alte Erinnerungen und Assoziationen verdrängen lassen. So behandeln wir mehr als 95 Prozent aller neuen Eindrücke und Erlebnisse, und dies ist die Erklärung dafür, daß so vieles gewohnt, eintönig, routinemäßig wirkt. Wir leben in unserem subjektiven und toten Vergangenen, nicht im objektiven und lebenden Jetzt.
8Wer Kenntnis von der Esoterik verbreitet, bekommt viele verschiedene Arten von Einwendungen gegen diese Lebenskunde zu hören. Gemeinsam für die allermeisten ist doch eine Sache: sie bauen auf unterbewußten Projektionen. Was man zu kritisieren glaubt, ist eigentlich nicht die jeweilige esoterische Idee, sondern die eigene falsche Auffassung (oft privates Steckenpferd), welche man auf sie projiziert. Diese Neigung zu Projizierung wird verstärkt durch den Ansichtsdruck der Umgebung und der Massentendenz, stets Ansichten von allem fertig zu haben, bevor man weiß, worum es geht.
9Daß Projektionen in vielen Fällen unausrottbar sind, beruht darauf, daß sie in starke Gefühle – oft negative, schmerzvolle – eingewoben worden sind.
10Einige Beispiele für schlimme Identifizierungen und Projektionen.
11Das Mädchen, welches nicht französisch lernte. In der Schule hatte sie einen sehr unangenehmen Sprachlehrer, einen Sadisten, gehabt. Es gab viele quälende Erlebnisse und keine nennenswerte Kenntnisse. Als Erwachsene bekam sie mehrere Impulse, die Studien wieder aufzunehmen, doch wurden sie stets erstickt. Sobald sie die Bücher hervornahm, nahm sie auch die alten Erinnerungen hervor. Sie identifizierte die neue (selbstgewählte) Lernsituation mit der alten (aufgezwungenen). Sie projizierte die Erinnerungen von Schmerz auf ihren Begriff von „französisch“.
12Identifizierung: französisch = Schmerz.
13Der Mann, der Frauen haßte. Er hatte mit mehreren Beziehungen nacheinander kein Glück gehabt. Wie er es sah, lag der Fehler bei den Frauen, in ihrer Unzuverlässigkeit usw. Er begann das ganze Geschlecht zu hassen: „So sind sie alle.“ Alle neuen lebenden Frauen, denen er begegnete, identifizierte er mit seiner Auffassung von „Frauen“. Den Begriff hatte er aus Erinnerungsbildern, in denen Enttäuschung der gemeinsame Zug war, reingezüchtet.
14Identifizierung: Frauen = Enttäuschungen.
15Der Junge, der sich vor der See fürchtete. Einst war er in ein entsetzliches Seeunglück verwickelt. Er hatte Kameraden ertrinken sehen. Niemals mehr wollte er mit dem Schiff fahren. Er verabscheute das Meer. Er identifizierte Meer und Boote usw. mit seinen fürchterlichen Erlebnissen. Er projizierte seinen Schrecken auf seine Begriffe von „Meer“, „Schiffe“ usw.
16Identifizierung: Meer, Schiffe = Entsetzen.
17Weshalb identifizieren wir? Deshalb, weil wir die Fähigkeit des Wiedererkennens haben, Gleiches in vielen verschiedenen Erinnerungen und Erlebnissen sehen, sodaß Einzelheiten im Neuen uns an das Alte erinneren. Nicht so gut entwickelt ist unsere Fähigkeit, tatsächliche Unterschiede zu sehen. Dennoch ist sie wichtiger. Sie führt allmählich zur Einsicht, daß die Dinge, welche wir identifizieren, nicht identisch sind, daß der Begriff nicht die Wirklichkeit ist, daß die Schlußfolgerung nicht das beobachtete Ereignis ist.
18Wir identifizieren deshalb, weil wir nicht denken, nicht nachdenken. Was wir „denken“ nennen, ist zumeist ein mechanisches Anknüpfen an Ähnlichkeiten, oft bloß scheinbare oder äußerliche Ähnlichkeiten. Keinerlei trennende Funktion sitzt da um aufzuzeigen: „Diese Situation ist neu, sie hat tatsächlich nur wenige und äußerliche Ähnlichkeiten mit der alten, das meiste an ihr ist ganz neu.“ Der Mann, der Frauen haßte, sah nur die Ähnlichkeit bei den neuen Frauen, die er traf, und seinem durchweg negativen Begriff von „Frauen“. Die Unterschiede – d.h. die positiven Eigenschaften bei den wirklichen Frauen – sah er gar nicht oder rationalisierte sie weg: „Ausnahmen bestätigen die Regel“.
19Natürlich projizieren wir nicht nur negative Gefühle, sondern auch positive. Wir legen in neue konkrete Situationen, welche wir mit unseren Begriffen identifizieren, frohe Erwartungen hinein. Auch das kann Probleme geben. Ein tragisches Beispiel hierfür ist der Einmarsch der roten Khmers in Pnom Penh am 17. April 1975. Die ganze Hauptstadt Kambodschas war im Freudenrausch, Regierungssoldaten und Aufständische verbrüderten sich. Endlich sollte es nun Frieden geben. Nach einigen Stunden hatte sich aber alles in Terror und Chaos verwandelt. Mit unerhörter Brutalität trieben die roten Khmers die Einwohner aller Städte des Landes hinaus auf das Land, wobei sie alle, welche sich zur Wehr setzten, ermordeten. Man rechnet damit, daß während der folgenden Schreckensherrschaft über eine Million Menschen getötet worden sind. Die
Menschen hatten eine vollständig neue und im Grunde genommen unwißbare Situation mit ihren Begriffen von „Frieden und Versöhnung“ identifiziert, bedingt durch Sehnsucht. Sie projizierten ihr Bedürfnis an positiven Gefühlen auf eine Aufstandsbewegung, über deren wirkliche Absichten sie damals in völliger Unkenntnis schwebten.
10.4 Identifizierungsbewußtheit
1Wir können uns besser bewußt werden, daß wir identifizieren und damit identifizieren und projizieren wir weniger. Dadurch können wir viele Irrtümer und viel Leid vermeiden. Wir beginnen damit, unsere eigenen Identifizierungen und die anderer zu beobachten. Dann fassen wir Einsichten zusammen:
2(1) Die konkrete Wirklichkeit um uns herum ist an Einzelheiten, Eigenschaften unendlich reich. Unsere Begriffe von diesen konkreten Dingen machen begrenzte Ausschnitte, eine Auswahl des Konkreten, aus und sind arm an Einzelheiten und Eigenschaften.
3(2) Die Wirklichkeit gibt es allein im Jetzt, ist stets dynamisch, auch in der geringsten Einzelheit veränderlich. Helmut1970 ist nicht derselbe wie Helmut1990. Unser Begriff von „Helmut“ ist statisch, erstarrt, vertritt das Vergangene und ist deshalb mehr oder weniger veraltert.
4(3) Die konkrete Wirklichkeit ist unerschöpflich, unbeschreiblich, unsagbar in dem Sinn, daß, was wir auch von ihr sagen mögen (unsere Beschreibung ist Begriffe), so ist dies nicht alles. Der Begriff ist erschöpflich, beschreibbar, sagbar. Das Gelände kann nicht erschöpfend beschrieben werden, dagegen die Karte.
5(4) Die Wirklichkeit besteht aus individuellen Dingen und Ereignissen, welche alle absolut einzigartig und eigenartig sind. Sicherlich bestehen Ähnlichkeiten zwischen ihnen, noch dazu wichtige Ähnlichkeiten. Ähnlichkeiten sind aber nicht Identitäten. Stuhl1 gleicht Stuhl2, ist es aber nicht, Stuhl2 gleicht, ist aber nicht Stuhl3 usw. Nicht auf allen konkreten Stühlen1,2,3... kann man sitzen, manche sind kaputt.
6In unseren Begriff „Stuhl“ haben wir, ohne nachzudenken, die Eigenschaft „kann darauf sitzen“ hineingelegt. Wenn wir jedoch die konkreten Stühle1,2,3... mit dem Begriff „Stuhl“ identifizieren, was wir tun, wenn wir die Wirklichkeit nicht beobachten und darüber nachdenken, sondern nur mechanisch assoziieren, versuchen wir, uns auf den Begriff zu setzen und kommen in plötzliche harte Berührung mit dem Fußboden, wenn der wirkliche Stuhl nicht das hält, was der Begriff verspricht.
7(5) Tatsächliche Unterschiede sind mindestens ebenso wichtig wie gedachte Ähnlichkeiten.
8(6) Die konkreten individuellen Dinge (Stuhl1,2,3...) sind immer in gewissem Ausmaß unvorhersagbar. In die Zukunft hinein wird es sie geben. Jedes einzelne muß für sich untersucht werden und soll nicht für gegeben genommen werden. Unsere Begriffe sind dagegen ein für allemal in der Vergangenheit geformt worden.
10.5 Nichtidentifizierung
1Wenn wir erst einmal eingesehen haben, daß wir identifizieren, können wir damit beginnen, uns in Nicht-Identifizierung zu schulen. Wir haben gelernt, daß das Ding, der Mensch, das Ereignis nicht mit unseren Eindrücken davon identisch sind, nicht identisch mit unseren Begriffen, Gedanken oder Worten von ihnen sind. Jetzt denken wir weiter: Was wir auch vom Ding usw. sehen können, so handelt es nicht von seiner ganzen Wirklichkeit; was wir auch von Menschen usw. sagen und denken können, so berührt es nur einen äußerst kleinen Teil aller seiner Eigenschaften, seiner unerschöpflichen Wirklichkeit. Wir halten für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf dieser Tatsache fest. Sodann beobachten wir die objektive Wirklichkeit – das Ding oder den Menschen – und schweigen. Wenn wir dann den Mund öffnen, halten wir die Aufmerksamkeit auf das gerichtet, was wir sagen, sind uns bewußt, daß, was wir auch sagen, so sind die Worte und die Gedanken nicht diese Wirklichkeit.
2Merke wohl, daß diese Einsicht nicht irgendeine Abart der Illusionsphilosophie ist, welche sagt, daß wir irgendeine objektive Wirklichkeit nicht auffassen, daß die Auffassung eine allein subjektive Erscheinung ist. Unsere Einsicht handelt statt dessen davon, wie wir die objektive Wirklichkeit auffassen, wie subjektiv unsere Auffassung ist. Das emotionale Denken ist es, welches die Welt nur durch Identitäten und Gegensätze auffaßt. Naiv ging es von der Identität von Bewußtsein und Gegenstand aus: „Alles, was es im Bewußtsein gibt, gibt es auch im Gegenstand und umgekehrt.“ Durch Nachdenken (Philosophie usw.) lernte man, daß Bewußtsein und Gegenstand nicht identisch sind. Nach dem philosophischen (zweiwertigen) Denken konnte Nicht-Identität nur den Gegensatz zu Identität bedeuten: Nichts, was es im Bewußtsein gibt, gibt es im Gegenstand und umgekehrt, was sehr richtig bedeuten muß, daß wir von der Umwelt nichts auffassen können.
3Die Erfahrung zeigt, daß die Worte „alles“ und „nichts“ selten eine genaue Beschreibung wirklicher Verhältnisse geben. „Etwas“ ist oft eine bessere Alternative. Die Bewußtheit der Identifizierung ist gleichzeitig Einsicht von Nicht-Identität und Nicht-Gegensatz. Die zwei unanwendbaren Kategorien Identität und Gegenteil gibt man auf. An ihre Stelle wird die stets anwendbare Kategorie Beziehung eingeführt: Etwas, das es im Bewußtsein gibt, gibt es auch im Gegenstand; und umgekehrt, etwas vom Gelände gibt es auch in der Karte usw.
4Eingedenk des Begriffes „Beziehung“ können wir uns immer fragen: Was für eine Beziehung besteht zwischen meiner subjektiven Auffassung und der objektiven Wirklichkeit, zwischen meiner Bewertung eines Menschen und dem wirklichen Menschen?
5„Etwas von Menschen fasse ich auf, aber nicht alles.“
6„Etwas in meiner Auffassung ist richtig, aber nicht alles.“
7Manchmal ist dieses „Etwas“ größer, manchmal kleiner.
8Wir sollten uns öfter fragen: Was für eine Beziehung besteht zwischen Auffassung und Wirklichkeit, zwischen abstrakt und konkret, in unserem Bild zwischen Geschehen, anderen Menschen und uns selbst?
9Beispiele für Beziehungen verschiedener Art (weder Identitäten noch Gegensätze):
10Individuum ist nicht Kollektiv („Jemand ist nicht alle“). Nur deshalb, weil mich ein Advokat, eine Frau (ein Mann), ein indischer Guru usw. einmal enttäuscht hat, so bedeutet dies nicht, daß „die Advokaten so sind“ usw.
11Einzelne Ereignisse sind nicht der ganze Vorgang („Irgendeinmal ist nicht immer“). Das erste und einzige Mal, als ich Peter traf, war er unangenehm. Dies bedeutet nicht, daß er immer so ist.
12Meine Reaktion auf einen Menschen ist nicht der Mensch. Meine Gefühle, Vermutungen, Schlußfolgerungen, Psychologisierungen in Bezug auf andere haben allzu oft eher ihren Grund in meinem Verlangen, mich zu behaupten, meine eigenen Handlungen und Anschauungsweisen usw. zu rechtfertigen, als in den Mitmenschen selbst.
13Die Seite ist nicht das Ganze. „Ich bin eine Niete.“ Denke ich aber nach, so beginne ich einzusehen, daß das Mißlingen nur eine von meinen vielen Seiten ist, daß ich auch bessere Seiten habe. Nicht ich bin es, der eine Niete ist, sondern etwas, was ich machte, mißlang. „Ich“ ist nicht mit dem Mißerfolg identisch. Sonst würde ich ihn nicht mißbilligen und Verbesserung anstreben.
10.6 Zweiwertiges und vielwertiges Denken
1Die Emotionalität ist zweiwertig. Sie schwingt zwischen Gegensätzen: Anziehung–Abstoßung. In der Evolution ist das Mentale durch das Emotionale aktiviert worden. Die beiden niedrigsten Denkarten, das Schlußfolgerungs- und Prinzipdenken (47:6,7), schaffen es nicht, sich von ihrem emotionalen Ursprung freizumachen. Sie sind emotional beherrscht und begründet.
2Deshalb sind diese Denkarten ebenfalls zweiwertig. Sie arbeiten mit Gegensätzen, die am liebsten absolut gemacht werden. Es ist schwer für sie, in einer Lage zwischen den Extremen alles–nichts, 0–100 Prozent, weiß–schwarz usw. einen festen Punkt für die Betrachtung zu finden. Mit der Aktivierung des Perspektivdenkens (47:5) macht sich der Gedanke von der Abhängigkeit vom Gefühl frei und gibt damit das Gegensatzdenken auf.
3Das zweiwertige Denken hat mit seinen kennzeichnenden Gegensatzpaaren die Sprache geformt. Auch wenn das Denken sich bei einzelnen Individuen über das Zweiwertige erhöht hat, wird es dennoch gezwungen, die gangbaren sprachlichen Ausdrucksweisen anzuwenden und gerät damit in Versuchung, die Gegensätze als absolut und wesentlich hinzunehmen: das Wasser ist entweder warm oder kalt, entweder lieben oder hassen wir, wissen oder sind unwissend, sind feig oder mutig usw.
4Die Dinge der Wirklichkeit können selten als wechselseitige Gegensätze beschrieben werden. Wir passen uns selbst und unser Denken besser der Wirklichkeit an, wenn wir die Alles-oder-Nichts-Kategorien aufgeben und teils Abstufung und Abänderung einführen; in der Sprache Worte wie „teilweise“, „beinahe“, „üblicherweise“, „selten“, „in gewissen Fällen“ usw. anwenden; teils in Verhältnissen (z.B. Prozent) überlegen; teils vergleichen, in Beziehung setzen („A ist wärmer als B, aber kälter als C“); teils ansehen, daß „die gleiche Sache“ (z.B. ein und das selbe Wort) nicht genau das gleiche in jedem Zusammenhang bedeutet: Beispielsweise kann ein Mensch „die gleiche Handlung“ aus selbstsüchtigen Beweggründen ausführen, die ein anderer aus
selbstlosen ausführt. All dies sind Beispiele vielwertigen Denkens.
5Vielwertiges Denken ist nicht-ausschließend (nicht-absolutmachend). Das zweiwertige emotionale Denken hat eine auffällige Neigung, das eine auszuschließen, um ein anderes hervorzuheben, Gegensätze zu konstruieren, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Ein Beispiel ist, wenn man theoretische Studien (z.B. der esoterischen Weltanschauung) mit dem Hinweis kritisiert, daß „wir statt dessen versuchen sollten, die praktischen Probleme der Menschheit zu lösen“. Als ob die eine Arbeit die andere ausschließe oder ihr Kraft stehle. Im Gegenteil, sie befruchten einander. Ein anderes Beispiel ist, wenn der Mensch in der Evolution (in der Regel auf der Kulturstufe) den Bewußtseinsaspekt „entdeckt“, einsieht, daß in diesem die wirklichen Werte des Lebens bestehen usw. und dann sofort bereit ist, den „Geist“ die einzige Wirklichkeit und die Materie Illusion zu nennen. Es ist, als ob der Gedanke in diesen frühen Abschnitten seiner Entwicklung einen neugefundenen Begriff nicht anders festhalten könne als durch absolute Gegensatzstellung zu etwas bereits Bekanntem.
6Vielwertiges Denken ist die Einsicht, daß es „unendlich viele“ Lagen zwischen den beiden Extremen, an welche zu glauben und nach welchen sich zu richten unsere gewohnten Gegensatzpaare uns gebieten, gibt. Es ist dieser Aspekt des Perspektivdenkens, welcher mehr allgemein am leichtesten zu verstehen ist, wenn auch nicht so leicht anzuwenden. Wie oft kommt es nicht vor, wenn wir für jemand anderen etwas ausführen sollen, daß wir in größter Eile handeln, aber den beruhigenden Bescheid bekommen, daß „es doch wirklich nicht so eilig ist damit“, worauf wir gänzlich erschlaffen und die Angelegenheit bis zum nächsten Monat aufschieben – als ob es nicht dennoch noch immer dringend sei? Vergleiche auch, wie man bei der Nachricht von ernsten Umweltproblemen von starker Unruhe auf Gleichgültigkeit hinüberpendelt, sobald sich der Alarm als etwas (aber auch nur etwas!) übertrieben erweist.
7Vielwertiges Denken versteht, daß die Worte der Sprache höchst mangelhafte Werkzeuge für den Ausdruck des Gedankens sind, daß wenige Worte eine genaue Bedeutung in sich haben, daß man deshalb immer den beabsichtigten Sinn in jedem Zusammenhang für sich ermitteln muß. Das zweiwertige Denken neigt dazu, im sprachlichem Ausdruck stecken zu bleiben. Es findet deshalb oft Widersprüche (Paradoxen) zwischen Aussagen, wo dasselbe Wort (vielwertig) in verschiedenen
Bedeutungen angewendet worden ist.
8Wir werden in der Esoterik teils dazu ermahnt, „uns selbst, unsere lächerliche Unbedeutsamkeit zu vergessen“, „Selbsterinnerung zu üben, uns zu merken, welche wir sind und wohin wir gehen“. Dieses ist en ausgezeichnetes Beispiel eines Paradoxes, welches zu verdauen dem Prinzipdenken schwer fällt. Das Paradox wird mit der Einsicht aufgelöst, daß das Wort „selbst“ in den beiden Sätzen nicht die gleiche Sache bedeutet, sondern daß es im ersten das „falsche Selbst“, die vergängliche Persönlichkeit, und im zweiten das „wahre Ich“, das Selbstbewußtsein der Monade ist.
9In der Esoterik wimmelt es von derartigen Paradoxen für das Prinzipdenken. Dies deshalb, weil die Lebenskunde von Wirklichkeiten handelt, von denen die meisten Menschen noch sehr wenig eigene Erfahrung haben, weshalb der Sprache treffende, allgemein begreifliche Worte für diese Dinge fehlen.
10Besondere Rücksicht nimmt das vielwertige Denken auf den Zeitfaktor oder den dynamischen Aspekt. Was zu einem gewissen Zeitpunkt in einer gewissen Lage gilt, braucht nicht zu einem anderen gelten: „Sage nicht, daß Caesar tapfer ist. Sage, daß er bei dieser oder jener Gelegenheit tapfer war.“ Das Emotionaldenken hat eine bösartige Neigung, sich zu weigern einzusehen, wie das Gesetz der Veränderung über alle Dinge herrscht. Hat es erst einmal etwas erfaßt, eine Anschauungsweise angenommen, will es diese unerschütterlich fest für alle Zeiten haben. Die schlimmsten Beispiele sind der unterschiedslose Glaube der Leute an sogenannte heilige Schriften. Daß diese nützliche und sogar notwendige Lebensregeln für Beduinenvölker 1500 Jahre v.d.Ztr. gaben, bedeutet nicht, daß sie für Menschen unserer Zeit Gültigkeit haben.
11„Man soll nicht verallgemeinern“, heißt es ja. Was die meisten jedoch Verallgemeinerungen nennen, sind nicht solche, sondern Absolutmachungen oder werden zumindest als solche aufgefaßt: die Norddeutschen sind steif, die Tiroler sind lustig, die Schweden saufen usw. (gemeint ist: „alle sind es, tun es“). Die Absicht mit Generalisierung ist jedoch, ein im allgemeinen, zumeist oder für die meisten geltendes Urteil abzugeben, wissend, daß vieles außerhalb der Gültigheit der Verallgemeinerung fällt (sog. Ausnahmen, welche die Regel bestätigen). Man soll nur dann verallgemeinern, wenn man weiß, warum man es gerade in diesem Fall tun kann. Die meisten Verallgemeinerungen sind grundlos und unvernünftig. Vernünftige Verallgemeinerung gehört zum
vielwertigen Perspektivdenken. Es ist für das Prinzipdenken kennzeichnend, solche Verallgemeinerung als zweiwertige Absolutmachung (alles-oder-nichts-Aussage) falsch aufzufassen und deshalb glaubt, sie mit dem Aufzeigen von Ausnahmen (geringerer Bedeutung) von der Regel widerlegen zu können.
12Richtige Verallgemeinerung: „Das Mittelalter war (im Ganzen genommen) eine finstere Zeit für Europa.“ Das Prinzipdenken „widerlegt“: „Das Mittelalter war gewiß nicht finster, denk nur an...“ und so zählt man eine Handvoll Lichtbringer, die natürlich verfolgt oder hingerichtet wurden, auf.
13Keine Wüste ohne Oasen. Daß man auf Oasen hinweisen kann, bedeutet also nicht, daß die Wüste nicht Wüste sei.
14Das Prinzipdenken glaubt, daß „Finsternis immer Finsternis ist,“ was sagen will, zu hundert Prozent. Kann man darin den kleinsten Lichtstrahl finden, neigt man dazu, in die Ansicht „ganz und gar nicht finster“ umzuschlagen.
10.7 Relativität
1Ebenso, wie das höhere Emotionale das Gefühl der Einheit von allem erlebt, so erreicht das höhere Mentale die Einsicht von der Einheit von allem.
2Relativität ist die Einsicht, daß nichts in der Wirklichkeit in Abgetrenntheit oder als etwas nur für sich selbst besteht, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Dingen und in gegenseitiger Beeinflußung (Wechselwirkung). Es sind die Beziehungen zwischen den Dingen, die das Wesentliche im Dasein ausmachen. Und von den Beziehungen sind die unveränderlichen, die konstanten Beziehungen am wichtigsten. Sie nennen wir Gesetze. Jenes Denken, welches immer die Beziehungen beachtet, danach strebt, die Dinge im Zusammenhang mit umgebender größerer Ganzheit, mit immer größeren Ganzheiten zu sehen, ist ein Aspekt des Perspektivdenkens.
3So lange wir uns des Prinzipdenkens bedienen, neigt jeder Begriff dazu, in unserem Bewußtsein als von anderen Begriffen isoliert, ohne klarerfaßtem Zusammenhang mit anderen Begriffen zu bestehen. Das Perspektivdenken versteht, daß die wirklichen Dinge, für welche die Begriffe stehen, immer relativ sind, d.h. in größere Zusammenhänge mit anderen Dingen eingehen. Dagegen ist das Prinzipdenken geneigt, Begriffe mit Wirklichkeit zu verwechseln (identifizieren) und betrachtet wirkliche Dinge, als ob sie absolute, isolierte Erscheinungen wären.
4Das Prinzipdenken kann Überlegungen um Zeit und Raum, Ursache und Wirkung, Materie und Bewußtsein, anstellen, als ob die Wirklichkeit hinter diesen Worten und Begriffen aus „Zeit“, „Raum“, „Ursache“ usw. bestehe gleichsam wie aus einer Art von Bauelementen.
5Der Perspektivdenker sieht ein, daß die Wirklichkeit eine unteilbare Einheit aus Materie–Bewußtsein–Bewegung ist, woraus Zeit–Raum usw. nicht abgetrennt werden können, sondern „die Art und Weise zu bestehen“ der bewußten, dynamischen Materie ist. Ebensowenig kann man in der Wirklichkeit „Ursache“ und „Wirkung“ von einander trennen. Wenn man bei der Beurteilung eines gewissen Geschehens gewisse Kräfte und Energien einseitig als „Ursachen“ und andere als „Wirkungen“ auffaßt, muß man seine Auffassung bald überprüfen. Denn die „verursachenden“ Energien können es nicht vermeiden, von den Verhältnissen, die sie beeinflussen, beeinflußt zu werden, und so entsteht tatsächlich ein System zusammengesetzter Wechselwirkung.
6Entsprechendes gilt für die Auffassung von Subjekt und Objekt in beispielsweise Psychologie und Pädagogik. Das Perspektivdenken sieht den Lehrer nicht als das bloße Subjekt des Unterrichtes und den Schüler als dessen alleiniges Objekt. Der Lehrer lernt selbst, indem er unterrichtet und dies geschieht durch seine Schüler. Tut er es nicht, so ist er kein Lehrer mehr. Alle sind sowohl Subjekt wie auch Objekt.
7Noch ein Beispiel. „Wissen“ wird vom Prinzipdenken absolut aufgefaßt: rechte Auffassung der Wirklichkeit. Wenn wir aber studieren, wie Wissen konkret funktioniert, sehen wir ein, daß es eine Beziehungssache und nichts Absolutes ist. Wissen ist eine Beziehung zwischen dem Auffassenden und der Wirklichkeit, welche das Wissen zum Gegenstand hat, aber keine x-beliebige Beziehung, sondern die Beziehung fehlerfreier Auffassung. Wiederum ist „fehlerfreie Auffassung“ nichts Absolutes. Verschiedene Subjekte, verschiedene Menschen haben unterschiedliche Fähigkeit der Auffassung. Für jeden einzelnen gibt es eine obere Grenze für Verständnis, und diese Grenze ist für alle verschieden. Was für einen Menschen Wissen ist, ist es nicht für einen anderen. Was er nicht begreift, wird für ihn kein Wissen, was er falsch auffaßt, wird der Gegensatz von Wissen (Fiktion) für ihn. Einige Jahre oder Inkarnationen später kann das, was ihm als Verrücktheit vorkam, umwälzende Einsicht geben.
8Bewertungen sind eine Art von Begriffen. Das Prinzipdenken wendet auch sie isoliert an, ohne die gemeinten Dinge in Zusammenhang mit ihrer umgebenden Ganzheit zu sehen. Die Führer der mit Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten Supermacht sehen die „nationale Sicherheit“ als einen absoluten Wert, welcher deshalb zu jedem Preis gesichert werden muß, auch auf Kosten der in der Wirklichkeit übergeordneten Werte – des Überlebens der Menschheit und des ganzen Planeten – welchen jeglicher nationaler Wert untergeordnet werden muß.
9Ganz besonders geneigt sind wir, Werte absolut zu machen, nachdem sie in Gefühlen von für oder gegen verankert sind, und das Gefühl ist maßlos. Was für uns und in einem gewissen Abschnitt in unserer Entwicklung gut ist, glauben wir, sei gut für alle. Beispiel dafür sind gewisse östliche Meditationsschulen, die nunmehr im Westen größeren Zustrom bekommen. Alle wollen sie „den abendländischen Menschen“ meditieren lehren – alle Menschen und nach dem gleichen Verfahren. Unwissend sind sie davon, daß die Menschen auf verschiedenen Stufen stehen, daß sie alle verschiedene Voraussetzungen und Bedürfnisse haben. Sie verstehen die Weisheit im alten Sprichwort nicht: „Was Nahrung für einen Menschen ist, ist Gift für einen anderen“. Konkret bedeutet dies, daß Meditation stets individualisiert werden muß, sodaß sie für die unterschiedlichen
Bedürfnisse ganz verschieden wird. Für viele ist die beste Meditation (bestes Aktivierungsverfahren) überhaupt keine Meditation, nämlich für diejenigen, welche bereits allzu in sich gekehrt sind, dazu neigen, der Wirklichkeit zu entfliehen. Deren „Meditation“ soll allein intensive Arbeit und Bewußtheit im Physischen sein.
10Es möge hinzugefügt werden, daß Bedürfnis und Begehren (Wunsch) nicht dasselbe ist. Das hat die exoterische Psychologie nicht eingesehen und kann es auch nicht einsehen. Begehren sind subjektiv und stehen oft im Gegensatz zu den Lebensgesetzen. Bedürfnisse sind objektiv und von den Faktoren des Entwicklungs- und Schicksalsgesetzes bedingt. Das meiste von dem, was wir begehren, brauchen wir nicht. Nach vielem von dem, wessen wir eigentlich bedürfen, fragen wir nicht einmal.
11Viele Neulinge in Esoterik erleben das neue Interesse zumeist emotional, was unvermeidlich ist, bis sie mehr gelernt haben. Oft wollen sie Freunde und Bekannte dazu bringen, „diese phantastischen Bücher“ zu studieren ohne Verständnis dafür, daß Esoterik nichts an sich Gutes und für alle Geeignetes ist. Das Perspektivdenken sieht auch diese Sache anders an. Es versteht, die Verbreitung der Esoterik in einen größeren Zusammenhang einzusetzen: die Förderung der Evolution der Menschheit. Konkret bedeutet dies, daß die Menschen zu größerer Verantwortung, tieferem Mitgefühl, größerer Selbständigkeit in Gefühl und Gedanke, zu größerem Ausmaß an Selbstaktivität und kritischerem Denken erzogen werden. Leider zeigt es sich, daß Esoterik in den Händen Unreifer genau entgegengesetzte Wirkung hat und unerwünschte Neigungen wie Flucht vor Wirklichkeit und Verantwortung, Erlösungsegoismus und Autoritätsglaube, Gutgläubigkeit usw. stärkt, alles unter Berufung auf „esoterische Prinzipien“, welche einzuholen man geglaubt hat, indem man aus ihrem Zusammenhang gerissene Angaben in esoterischer Literatur mißverstanden hat. Wenn Esoterik zu einem absoluten Wert, aus ihrem größeren Evolutionszusammenhang herausgelöst, werden darf, wird dies unfehlbar ihrem eigentlichen Zweck entgegenwirken.
12Das Perspektivdenken sieht ein, daß viele Werte als Teilwerte in höhere, übergeordnete und deshalb wichtigere Werte eingehen. Die niedrigeren Werte haben deshalb nur solange Daseinsberechtigung, als sie den höheren Werten nicht entgegenwirken. Die Lebensgesetze geben die Grenzen für das an, was verteidigt werden muß, gestattet werden kann und bekämpft werden muß. Die Rücksicht auf das Beste des Ganzen ist der Leitstern.
13Beispiele hierfür sind Nationalismus, Humanismus und Globalismus, die in erwähnter Ordnung eine Reihe von immer höheren Werten, eine Werthierarchie bilden. Nationalismus ist etwas Gutes und Richtiges als Ausdruck für die Eigenart der Volkgruppe. Kommt er aber in Konflikt mit dem nächst übergeordneten Wert, dem Wohl der ganzen Menschheit, dem Ideal des Humanismus, so muß dem Nationalismus Einhalt geboten werden. Der Humanismus ist ebenfalls kein absoluter Wert. Denn er muß als Teil in den noch höheren Wert, dem Wohl alles Lebenden auf unserem Planetem, dem Ideal des Globalismus’, eingeordnet werden. Ein Humanismus, der die Menschheit auf Kosten übrigen organischen Lebens in Saus und Braus leben läßt, erweist sich als falsch und auf Dauer unhaltbar.
14Auf entsprechende Weise ordnet der Perspektivdenker seine Bewertungen in hierarchische Systeme ein und bekommt dabei durch seine Kenntnis der Lebensgesetze große Hilfe.
15Weitere Beispiele. Viele Pazifisten sehen das Töten als etwas absolut Böses, welches unter keinen Umständen gestattet werden kann, an. Angriff und Verteidigung sind ebenso verwerflich. Eine Nation muß also den Angriff anderer Staaten widerstandslos hinnehmen. Das einzig Wesentliche ist, daß „kein Menschenleben draufgeht“ (als ob es das tun könnte!). Die Nation hat sich in Besetzung, Terror, Einführung von lebens- und wissensfeindlichen Ideologien, alles, was die Evolution hemmt, zu fügen.
16Der Perspektivdenker hat eine andere Auffassung davon. Physisches Leben, Leben im Organismus, sieht er nicht als etwas von absolutem Wert, sondern relativ: einen Wert, insofern es eine Möglichkeit zu weiterer Evolution bedeutet. Größtmögliche Freiheit (auch Freiheit von Furcht) und Selbstbestimmung – für das Individuum ebenso wie für die Nation – sind für die Evolution notwendig. Deshalb ist es immer befugt, physisches Leben zu opfern, falls das Bewußtseinsleben auf andere Weise nicht gesichert werden kann. Nach dem Freihetsgesetz hat man außerdem immer Recht (und Schuldigkeit!), seine Freiheit gegen unrechtmäßige Beeinträchtigung zu verteidigen, und wer von diesem Recht nicht Gebrauch macht, trägt mit seiner Passivität zur Stärkung der Macht des Bösen in der Welt bei.
17Wie soll man also daran arbeiten, um sein Denken weniger absolutmachend und mehr relativierend zu machen?
18Vor allem, in dem man auf Beziehungen achtet. Studiert, wie „die gleiche Sache“ in verschiedenen Zusammenhängen wirkt und umgekehrt, wie verschiedene Sachen die „gleiche“ Funktion leisten. Man sucht auf und studiert jenen größeren Zusammenhang, jenes immer umfassendere Gewebe aus Beziehungen, in welchem jedes einzelne Ding stets fungiert. Man starrt nicht auf seine absoluten Begriffe und grübelt über ihre wechselseitigen Widersprüche, denn dies gleicht der Gespensterjagd, sondern geht statt dessen zu den konkreten Wirklichkeiten, welche in ihren Beziehungen stets widerspruchslos sind. Man kann daran denken, daß das, was zu etwas „ein Gegensatz“ zu sein scheint, es nicht zu sein braucht, sondern dessen größerer Zusammenhang sein kann.
19Ein Beispiel dafür ist, wie die Wissenschaft zuerst neue Anschauungsweisen als der Forschung angeblich abträglich bekämpft, sie aber dann als eine weitere und richtigere Auffassung der gleichen Sache annimmt. Die Physik Einsteins wurde zuerst als ein Gegensatz zu der Newtons betrachtet, bis man dann einsah, daß sie eine allgemeinergültige Formulierung, in welcher Newtons Physik sich weiterhin als Spezialfall wohlfühlen konnte, war.
20Wenn man Ursachen und Wirkungen studiert, besinnt man sich darauf, daß niemals nur eine Ursache zu einem gewissen Ergebnis führt und daß eine gewisse Ursache niemals nur eine Wirkung hat, sondern daß eine solche vereinfachte Auffassungsweise auf der Verwechslung von Begriff und Wirklichkeit beruht.
21Um ein Beispiel zu geben: „Dieses Porzellan springt unfehlbar, wenn man es in kochendheißem Wasser wäscht.“ Aber, wenn das Porzellan gesprungen da liegt, so bedeutet das nicht ohne weiteres, jemand habe es unachtsam abgewaschen.
Der obige Text ist dem Buch Die Erklärung entnommen. Copyright © by Lars Adelskogh 2007.